Predigt September 2024
Wie sollen wir das Blatt wenden?
Der Text der Inspiration lautet Lukas 15:2b “ dieser nimmt die Beklagenswerten auf (frei nach Hillary Clinton, 2016: ‘the deplorables’) und isst mit Ihnen”.
Der Glaube, liebe Alle, wirft mehr Fragen als Antworten auf.
Vor allem in der Kirche.
Die Remonstrantenkirche ist der Ort der Frage schlechthin. Gerade jetzt.
Heut zutage geht es um die richtige Frage. Die Frage wie sollen wir das Blatt wenden? Wer die richtige Frage stellt, erhält die richtige Antwort, zumindest im bereich der KI. Die Frage im Sinne der künstlichen Intelligenz, der sogenannte Prompt, ist die Antwort; fast automatisch, ja gerade bevor man es merkt ist sie da.
In der Kirche geht das leider nicht so einfach und müssen wir uns mehr Mühe machen und auch etwas Zeit dafür nehmen. Heute morgen eine Viertelstunde für die Predigt.
Also, was für eine Zeit ist es in der wir leben? Was ist den Zeitgeist? Und sind wir im Einklang mit dem Geist der Zeit oder sind wir nicht im Kleinklang mit ihm? Welche Stimmungen, Stimme (leise oder laut), Werte und insbesondere welche Moral dominieren das heutige Leben?
Was fängt an die kulturellen Winde und Welle in der Rücke zu haben? Um den Zeitgeist einzufangen, müssen wir eine Zeitleiste erstellen. Der Blick in die Zukunft beginnt immer mit einem Bewusstsein für die Vergangenheit.
Wenn die Geschichte ein Leitfaden ist, kündigt vielleicht am Horizont ein neue kulturelle und moralische Dynamik sich an. Schauen wir also zunächst in die Vergangenheit.
Der Erste Weltkrieg, der sogenannte Große Krieg , WO I wich dem sorglosen Hedonismus während der wilden 20-er Jahre.
Der Zweite Weltkrieg WOII wich der Häuslichkeit der langweiligen 50-er Jahre. Zumindest war das in den Niederlanden der Fall.
Die Tage der Wut und der Studenten Revolte in den späten 60- er Jahren gaben nach Weg zur NewAge Feinheit der Mitte und Ende der 70- er Jahre und folglich die Dummheit des “ Endes der Geschichte”.
Die 1980-er und 1990-er Jahre wichen der vorherrschenden kapitalistischen Weltstimmung “Gier ist gut”. Parallel zum Wirtschaftsmotto ‘Gier ist gut’ enstand das postmoderne Dogma “Alles geht” als kulturelles Aaccessoire dieser Epoche.
Der Slogan “Gier ist gut”, eigentlich das Leitmotiv des ökonomischen Neoliberalismus , leitete die Ära des selbst ein, die die ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts dominierte: in den letzten 24 Jahren (fast ein Vierteljahrhundert!) gab es weltweit eine unverhohlene Faszination für das Selbst:
Selbstwertgefühl
Selbstausdruck
Selbstförderung
Selbstverwirklichung
Selbstliebe und Selbstmitleid
und schließlich Selbsthass und Selbstzerstörung.
Ich glaube, ich hoffe, ich bitte, wir leben im Herbst dieser Ära ! Es war eine zu langle, zu dunkle Zeit, diese Ära des Goldes und des Glanzes; ja, es war eine Ära des vergoldeten Narzissmus, der Trump zu einer Berühmtheit gemacht hat,
aber in der Ferne ertönt bereits sein Abschiedslied
ein Abschiedlied
fast ist es vorbei
was einst Morgens kam
war Nachts ein Albtraum
of taumelte er wie eine Tute
Meerschaum des Mondscheins
im Wasser Wüste
immer rechnete er mit Treffern lustig das Wasser ablichtend ins sonnenorangen Gesicht
die Verfärbung von Lust in Leide
nie wieder dreht er in dem selben Kreise
bald geniesst er eine schöne Reise hoffentlich
ein Abschied leise
Narzissmus ist grundsätzlich fragil.
Das Ego und das Selbst sind grundsätzlich zerbrechlich.
Nur das Wir und das Wir zusammen sind stark.
Die kulturellen Winde von gestern sind Verachtung, Konflikt und Verzweiflung.
Die kulturellen und moralischen Winde von Morgen wehen uns Hoffnung, Freude und Liebe ins Gesicht .
Im Moment lautet die einzige Frage, wie? Wie kann man das Blatwenden?
Wie können wir den Wind ändern?
Wie können wir Verzweiflung und Unzufriedenheit in Hoffnung und Glauben an die Zukunft verwandeln?
Nur in einem Namen! Unsere Hilfe erfolgt im Namen des Herrn.
Unsere Hoffnung erfolgt im Namen des Herrn. Unsere Zukunft erfolgt im Namen des Herrn.
Der Name des Herrn is Hirte! Der Herr ist der Hirte.
Gestern hatten wir uns selbst eine Gürtel umgebunden und sind wir gegangen wohin wir selbst gerne gehen wollen. Aber morgen werden wir einen anderen Weg gehen.
Wir werden dorthin geführt, wo wir selbst lieber nicht hingehen wollen.
Wir werden vom Guten Hirten dorthin geführt, wo wir selbst lieber nicht geführt werden möchten: in den Armen des Anderen;
in den Armen des Anderen, was letztendlich der sicherste Schafstall für uns ist;
in den Armen des Anderen, was letztendlich für uns der schönste Schlafplätze ist, das beste und zuverlässigste Wohnheim für uns Menschen,
der sicherste und beste Schutz vor einem Albtraum sind unsere Mitmenschen.
Jean-Paul Satre hat sich geirrt, oder besser er hatte Recht und Unrecht zugleich. In seinem Stück Huis clos (1944) lässt er in der Schlüssszene Garcin, einen der drei Protagonisten den berühmten Satz L ‘enfer , c’est les autres (Die Hölle sind die Anderen) vortragen. Satre hat Recht denke ich wenn es bedeutet dass sein Stück unsere vorübergehenden Beschäftigungen enthüllt mit dem, was andere Menschen tun und denken in Bezug auf das eigene Selbst. Aber das eigene Selbst ist ein Thema von gestern haben wir gerade gehört. Satre hat Unrecht denke ich da wo sein Theaterstück insgesamt die Frage aufwirft, ob wir uns aufeinander beziehen würden oder sollten. Satre verneint diese Frage. Ich sage Ja.
Heute gibt es so dringendes Bedürfnis nach Worten der Vergebung, der Heilung, des Vertrauens. Diese Worte klingen im Psalm 23 am schönsten.
“Der Herr is mein Hirte” ist das ultimative religiöse Bild für Empathie und Mitgefühl für die Machtlosen. Es ist das Bild Gottes der uns als seine Kinder trägt, der uns pflegt und beschützt, wie der Hirte seine Schäfer.
Wie mein niederländischer Kollege Simon Vuyk, kürzlich schrieb “Der Herr ist mein Hirte “ ist der Kern dessen, was wir als die Kraft erkennen, die über unsere eigenen Interesse hinausgeht, das Leben erhöht und als Metapher für das, was uns in der Ewigkeit beschützt und inspiriert : Empathie . Dieses Symbol hält die Generationen über alle Grenzen von Leben und Tod hinweg “in Gott” .Dieses Symbol des Hirten wird in den Geschichten von Jesus von Nazareth unterschrieben, unter anderem über die Freude ein verlorenes Schaf zurück zu finden.Dieses Symbol des Hirten stellt die “väterliche” Fürsorge dar, mit der Jesus von innerem Mitgefühl bewegt, identifiziert wurde und durch die seine Jünger in ihm den guten Hirten erkannten”.
Mit Simon glaube ich dass die Metapher “Der Herr ist der gute Hirte” auch unsere Hoffnung auf eine gute Zukunft evoziert. Unsere Hoffnung liegt im Name des guten Hirten.
Gott hat uns seine göttliche Herrlichkeit gezeigt in seiner Hirtheit oder in besserem Deutsch, in seiner Hirten Tätigkeit; das heißt im Demut:
in dem Demut Jesu.
Wie sollen wir das Blatt wenden? Wir sollen es tun wie Jesus: wir sollen das Blatt wenden an jenem Ort der Ohnmacht.
Von diesem Ort der Ohnmacht aus ruft der Geist Jesu aus : Abba, Vater! Du bist unser Hirte!
Wenn wir diesen Ort der Ohnmacht in uns selbst berühren, dann berühren wir auch gleich die Ohnmacht aller Ohnmächtigen in unserer Welt.
Wenn wir hoffen von diesem Ort der Ohnmacht aus, dann hoffen wir solidarisch mit den Millionen und Millionen Ohnmächtigen, dann hoffen wir zusammen,
dann hoffen wir im Namen Jesu.
Doch Gott rettet. Sein Geist weht wo er will, auch unter denen, die Jesu nicht kennen oder noch nicht, oder manchmal lieber nicht: Gott ist Liebe.
Jederzeit und überall.
Worum geht es beim Glauben, wenn nicht wen man mit der undenklichen Liebe Gottes ernährt, nicht wie oder womit ( aus : Predigt Friedrichstadt 20 September 2020).
Wer empfängt heute die Beklagenswerten und isst mit Ihnen?
Das ist auch eine gute Frage, liebe Alle,
doch die kommt beim nächsten mal. Aber vielleicht möchten Sie ein wenig schon darüber nachdenken:
“bin ich es, Herr?”
Amen
Rotterdam, 21.09.2024
P.A.P.E. Kattenberg