Gottesdienst 29. September 2019

Bibellesungen:
Psalm 42.
Exodus 17: 1 – 8.

Gebet:
Lieber Gott,
auch heute sind wir wieder bei einander
um in deiner Nähe zu sein,
um wieder von dir zu wissen,
um etwas von dir erfahren zu können
in dieser Welt, in unserem Herzen,
in unserer Seele, die vielleicht noch weiss von dir,
die vielleicht noch nach dich verlangt,
nach ein Zeichen von dir, dass du da bist,
dass du uns eine Geborgenheit gibst
die wir manchmal sosehr brauchen,
in einem Leben das scheinbar so sorglos ist.
Wir leben unser Leben, Gott,
das manchmal so selbstverständlich ist,
mit allem was wir täglich tun,
mit all’ den vertrauten Menschen die es gibt,
mit den Höhen und Tiefen auch,
worauf wir uns freuen, die wir fürchten,
die bei uns bleiben in unserem Leben;
wir lében einfach, und wissen manchmal nicht
welche Fragen noch so wichtig für uns sind,
dass wir sie an dich stellen können,
wo wir selber keine Antworten mehr wissen,
wo wir dennoch wissen, sie zu brauchen,
Antworten für unser Leben,
Trost für unsere Seele,
in einem Wissen dass es gut ist um zu leben,
um irgendwie von dir zu wissen,
in deiner Nähe, in einer Entfernung auch
die uns wieder verlangen tut
um einfach bei dir zu sein,
in unserem Gebet, in unserem Leben.
Amen.

Predigt:
Es gibt manchmal im Leben Momente, dass wir beschäftigt sind mit bestimmte Dinge, – einem Gespräch mit Freunden, einem Spaziergang durch die Stadt, oder einfach ein Buch lesen in unserem Lieblingsstuhl, – und plötzlich passiert etwas anderes das um unsere Aufmerksamkeit fragt. Und das kann so wichtig sein, dass wir lange Zeit damit beschäftigt bleiben, und letztendlich so etwas wie eine grosse Bedeutung zuschreiben an das, was wir eben erfahren haben. Eine grosse Bedeutung, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Zeit, für die Welt, die Kultur, worin wir leben.
So etwas passierte dem Russischen Dichter Joseph Brodsky, Nobelpreisträger für Literatur in 1987, als er, mehr als zwanzig Jahre davor, bei einer tatarische Familie zu Gast war, in Leningrad (wie es damals noch hiess), und dort sah, wie der griechisch- orthodoxe Kirche gegenüber abgerissen wurde, um Platz zu machen für einen neue grosse Konzertsaal. Das Gespräch verstummte, und sie sahen mit Erstaunen an, wie schnell und mit wieviel Gewalt, die grosse alte Kirche mit ihrem Kuppel vernichtet wurde, die so lange Zeit ein vertrautes Bild war in dieser Umgebung.
Brodsky hat später über dieses Ereignis ein langes Gedicht geschrieben, das mir besonders traf. Es fängt so an:

“In Leningrad sind jetzt so wenig Griechen,
daß eine griechisch-orthodoxe Kirche
man abriß, um an ihre Stelle einen
Konzertsaal hinzusetzen. “

Brodsky fragt sich, ob hier nicht “etwas Hoffnungsloses’ passiert, obwohl er weiss, dass ein Konzertsaal, “ein Heiligtum der Kunst”, ein Tempel also auch, an sich nicht hoffnungslos braucht zu sein. Aber, für sein Gefühl, wird hier dennoch so etwas sichtbar wie ein Kulturwandel, auch wenn er versteht, dass es zu wenig Griechen gibt, in Leningrad, um ihre Kirche aufrecht zu halten, “ihr Gebäude zu retten”, wie er schreibt.
Die letzte Strophe seines langen Gedichts lautet dann so:

“Heut Nacht schau in das dunkle Fenster ich
und denke nach: Wie weit sind wir gekommen?
Und was ist ferner uns: der Hellenismus,
der orthodoxe Glaube? Was ist nah uns?
Was haben wir in Zukunft zu erwarten?
Harrt unser jetzt nicht eine andre Ära?
Und wenn’s so ist, was ist dann unsre Pflicht?
Und welche Opfer müssen wir ihr bringen?”

Grosse Fragen werden hier gestellt. Fragen auch, die nicht nur dieses Ereignis betreffen, den Abriß dieser Kirche, sondern eigentlich auch, ohne das ausdrücklich zu sagen, die Frage was wir überhaupt aufrecht halten. Ob wir nicht nur die Kirchen retten, die uns von altersher gegeben sind, sondern auch den Glauben behalten, der diese Kirchen gebaut hat; den darin erlebt wurde; der für den Menschen die dort lebten, so wichtig war, dass sie die Erhaltung dieser Kirchen für eine Pflicht gehalten haben. Wenn es diese Menschen nicht mehr gibt, wenn es dieser Glaube nicht mehr gibt, fragt Brodsky, was gibt es dann? Was gibt eine andere Zeit, “eine andre Ära”, wie er schreibt? “Was ist dann unsere Pflicht?” Denn: ohne Verpflichtungen geht es wahrscheinlich nicht im Leben: wir müssen uns im Leben aufrecht behalten, mit den Menschen an wen wir uns anvertraut heben; die sich an uns anvertraut haben. Und deshalb geht es höchstwahrscheinlich auch nicht ohne Opfer, obwohl auch dieses Wort ‘Opfer’, genau wie das Wort ‘Pflicht’, von vielen Menschen aus ihrem Vokabular gestrichen wurde, vielleicht auch aus ihrem Gedächtnis. Wie oft benutzen wir selber diese Worte noch? Wie oft sprechen wir darüber mit unseren Kindern? Gehören diese Worte selber nicht zu einer andere Ära?
Vielleicht ist es gut, dass ein Dichter wie Brodsky uns an diese Worte erinnert. Vielleicht gehört es zu den Aufgaben der Dichter um Worte die in Vergessenheit drohen zu geraten, wieder wach zu rufen. Vielleicht gehört das auch zur Aufgabe der Kirche. Vielleicht ist es gut dass ein Dichter wir Brodsky uns mindestens an die Frage erinnert, was unsere Pflicht sein konnte. Dass er uns an die Frage erinnert, dass es möglich ist dass auch wir Opfer bringen müssen. Ob wir dazu bereit sind? Welche das für uns sein konnten?
Das Gedicht das Brodsky über dieses Ereignis geschrieben hat, heisst auf Deutsch: “Haltestelle in der Wüste”, und so heisst auch der Band worin es steht. Das ist ein überraschender Titel, finde ich. Dieser Titel verweist zu biblische Themen, worin die Wüste zur Sprache kommt, und die vierzig Jahre die das Volk Israel durch die Wüste zog, um nach so lange Zeit das Land zu erreichen worauf es hoffte. Im Gedicht selber kommt diese Wüste nicht vor, nur in dem Titel; wir werden also im gewissen Sinne selber aufgerufen, Verbände zu suchen (wenn wir das wollen) zwischen dem Gedicht und die biblischen Themen, die uns vielleicht vertraut sind, vielleicht auch nicht.
Steht das Abbrechen dieser Kirche für die Wüste, für die Leere, wenn die Menschen die darin gebetet haben, die darin die Trost für die schwierige Momente ihres Daseins gefunden haben, die Geborgenheit ihres Lebens, jetzt heimatlos geworden sind?
Steht die Wüste für vergleichbare Erfahrungen von anderen Menschen, die nicht mehr wissen wo sie eine Sicherheit im Leben, eine wesentliche Geborgenheit, noch finden können?
Es gibt ohne Zweifel auch für uns solche Momente, oder Zeiten, in unserem Leben, wo wir kaum mehr wissen, welche Richtung wir nehmen können, müssen. Wo wir uns verlassen fühlen von den Menschen die uns unterstützten, von den Selbstverständlichkeiten die es gab, von einer notwendige Geborgenheit (das Gefühl irgendwie sicher zu sein im Leben, vor dem Schrecklichsten geschützt). Was machen wir dann? Wie finden wir dann den Weg um weiterzugehen, im Leben?
Aber was sind dann ‘Haltestellen’? Haltestellen in der Wüste?
Biblisch gesprochen, in den Erzählungen über den Durchgang durch die Wüste, sind das die Oasen, wo die Leere, die Trockenheit der Wüste, für eine Zeit unterbrochen wurde. Stellen, wo es Wasser gab, eine gewisse Fruchtbarkeit also, Bäume, Gras, Schatten, wo man sich erholen konnte von den Schwierigkeiten des langen Wegs. Für einige Tage, aber auch für längere Zeit, für Jahre eben. Es gab Oasen die sehr gross waren, wo sehr viele Menschen jahrelang bleiben konnten, leben, auch wenn sie wussten dass es nicht für immer gemeint war. Letztendlich mussten sie wieder weiterziehen, die Vorläufigkeit die es gab musste zum Schluss eingewechselt werden für ein wirklich sicheres Leben. Für so etwas wie eine definitive Bestimmung, für eine Ankunft, worauf man immer dennoch gehofft hatte.
Im Gedicht von Brodsky sind die Haltestellen eigentlich die Fragen die gestellt werden: die Grundfragen des Lebens, die immer auftauchen, auch wenn wir es selber nicht wollen. Wenn wir gezwungen sind um wirklich stille zu stehen, und uns selbst die wichtigste Fragen des Lebens zu stellen. Was ist uns fern? Was ist uns nah? Was ist unser Pflicht? Welche Opfer müssen wir bringen? Diese Fragen bleiben wir uns stellen, auch wenn unsere Kirchen abgebrochen sind. Auch wenn soviel abgebrochen wird, womit wir in unserem Jugend, in unserem Leben, vertraut waren. Auch wenn es kaum noch Sicherheiten mehr gibt in der Gesellschaft, worin wir leben. Wenn wir unseren eigenen Weg im Leben suchen, mit ihren Wüsten und mit ihren Oasen, dann müssen wir auch wissen was uns nah ist, und was fern; wovon wir uns verabschieden müssen, wofür wir kämpfen müssen, wenn wir das Leben in Würdigkeit und Gerechtigkeit behalten mögen.
Wir haben heute eine beladene Geschichte gelesen aus der Zeit des Durchgangs durch die Wüste, wahrend eines Aufenthalts in einer Oase, Refidim genannt. Aber, in diesem Rastplatz gab es kein Wasser, wie es erwartet wurde, wie es sich gehört. Kein Wasser in einer Oase, das ist so etwas wie das schrecklichste, was dem Volke passieren konnte; das lebensbedrohendste das es gab. Wir können diese enttäuschende Entdeckung vergleichen mit den schrecklichsten Anzeigen unseres Lebens: wenn uns etwas erzählt wird von einer ernsthaften Krankheit, einer Operation die notwendig ist fürs Leben, von uns selbst oder von geliebte Menschen. Wenn wir so etwas hören, oder auf eine andere Weise von etwas erfahren das unsere gerechtfertigte Erwartungen für die Zukunft so widerspricht, dass wir um unser Leben fürchten, oder ums Leben von anderen, dann entsteht so etwas wie eine Krise in unserem Leben. Das sind die Zeiten auch unserer grössten Zweifel, über den Sinn des Daseins. Die Zeiten auch unserer heftigsten Vorwürfe, an anderen, an Menschen, oder gegen Gott.
Hier, in unserer Geschichte, wenn die Menschen nach Wasser dursten, werfen sie Mose vor, dass er sie aus Ägypten dorthin geführt hat, um sie (wie sie sagen) “verdursten zu lassen”. Und sie fühlen sich von Gott im Stich gelassen, und stellen sich die Frage: “Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht?’
Auch hier ist die Frage hervorragend geeignet um die Situation zu klären. Wie Fragen die kennzeichnend sind für die Haltestellen unseres Lebens. Andeutend wie ernsthaft diese Situation hier auch ist. Offenbar so ernsthaft, dass Gott selber eingreift, und Mose den Auftrag gibt um Wasser aus den Felsen zu schlagen. Und das Wunder passiert auch, unverständlich wie immer, eifersüchtig machend in alle Situationen, worin wir selber nach solche Wunder verlangen.
So haben Generationen von Menschen, bis auf den heutigen Tag, sich diese Verbindung von Elemente erinnert: als den Streit die darüber geführt wurde, wenn das Lebensnotwendige uns fehlt; wenn das was uns im Leben die notwendige Geborgenheit gibt, abgebrochen wird; wenn Vorwürfe und bittere Fragen unser Leben beherrschen, und wir nicht mehr wissen ob Gott uns noch nah ist.
Aber auch als eine Erinnerung an das Wunder das dennoch passierte. Das vielleicht noch immer passieren kann, auch in unserem Leben, in unserer Gesellschaft. Wenn wir unsere Lebensquellen nicht vergessen, auch dann nicht wenn sie in unserem täglichen Leben scheinen auszutrocknen. Auch dann können wir versuchen zu spüren nach dem, was in den Felsen unseres Lebens verborgen ist, an Quellen lebendigen Wassers. Damit es wieder Hoffnung gibt, für uns, für allen, die an unseren Sorgen anvertraut sind. Damit wir wieder glauben können, in unseren wiederaufgebauten Kirchen.
Amen.

Gebet:
Lieber Gott,
wir bitten dich für die Menschen
die grosse dringende Fragen haben über ihr Leben,
und nicht wissen wie sie eine Antwort bekommen können,
nicht von Menschen, die sie nicht vertrauen können,
nicht von dir, den sie nicht kennen,
nicht wissen wie sie dich erreichen können.
Sei du bei ihnen, in ihrer Wüste,
als einer der sie dennoch zu Wasser führt,
zu einem Wissen eines neuen Lebens,
wo es Hoffnung gibt, und Ruhe.
Wir bitten dich für die Menschen
die unsere Zeit nicht verstehen können,
die nur noch niedergeschlagen sind, von soviel
das sich geändert hat in ihrem Leben,
in soviel Schichten unserer Gesellschaft,
dass sie die Spur verloren haben worauf sie sich richteten,
nicht mehr wissen was ihr Leben wirklich sein kann.
Sei du bei ihnen, als einer
der sie bei der Hand nimmt, und eine neue Richtung zeigt
wohin ihr Leben gehen kann,
ein neues Denken, das ihr Herz erfüllt.
Sei du bei uns allen, wenn wir versuchen
den Sinn unseres Lebens so klar zu verstehen
dass wir unbesorgt sein können über uns selbst,
dass wir sehen können, und fühlen, was in anderen passiert,
dass wir eine Freude ausstrahlen die von dir kommt,
über das Leben das uns gegeben ist,
über die Zukunft von Menschen,
über ein gemeinsames Leben
das uns alle umfasst.
“Onze Vader…”
Amen