Gottesdienst 27. Januar 2019
Dieser Gottesdienst, zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, war ein gemeinsamer Gottesdienst im Sankt Christophorus-Kirche, in Friedrichstadt.
Im Gottesdienst wurde ein Vortrag gehalten von Christiane Thomsen, zu drei jüdische Mitbürgern Friedrichstadts und ihrem Schicksal im Nationalsozialismus, und wurde gepredigt von Pastor Christoph Sassenhagen und Pastor Severien Bouman.
Hier wird die Predigt des letzteren wiedergegeben, und das anschliessende Gebet.
Bibellesung:
Genesis 4: 5b – 15.
Predigt:
Wird Kain für sein Verbrechen an seinem Bruder vergeben?
Diese schwierige Frage hat eigentlich nie aufgehört die Menschen zu beschäftigen, und auch jetzt noch, wenn wir die Opfer des Nationalsozialismus gedenken, hier in dieser Kirche, wissen wir nur all zu gut, dass es keine einfache Antworten gibt. Es gibt keine “billige Gnade” mehr, weder für dasjenige das wir selber verbrochen haben, woran wir schuldig sind, noch für dasjenige was unsere Eltern, unsere Vorfahren, selber falsch gemacht, oder stillschweigend erlaubt haben. Auch wenn viele Menschen heutzutage einfach nichts davon wissen wollen, davon ausgehen dass das schon lange Zeit vergessen ist. Unschuldig, ohne Vergebung, ohne Gnade, ohne Geschichte manchmal, ohne sich um jeden Vorwurf zu kümmern.
Das ist vielleicht zu wenig, für Menschen, die aufrichtig in ihrem Glauben leben mögen; die mindestens wissen von einem “Gegenüber”, an wen sie ihre wichtigste Fragen vorlegen, im Gebet, von wem sie eine Verantwortlichkeit empfangen wissen für ihr Leben, mit wem sie in Gespräch sind über die wichtigste Themen des Lebens, und wissen nicht alles selber zu entscheiden, zu wissen. Die auf Beistand hoffen, auf Kraft und Liebe, um ihr Leben einfach zu klären. Was kann uns dann ein Wort wie “Vergebung” sagen, gegenüber die schwierige Fragen die damit verbunden sind?
Auch wenn wir selber das Wort “Vergebung” kaum in den Mund nehmen dürfen, – von wem können wir vergeben werden? Nicht von den Opfern die nicht mehr da sind, nicht von anderen Menschen die nicht für sie sprechen können, und vielleicht auch nicht von Gott, der (nach Aussprachen der Rabbiner) nicht vergeben kann was die Menschen einander antun, und nur vergeben kann was ihn angetan ist. Dennoch können wir versuchen zu verstehen, wie das Wort “Vergebung” geklungen hat im Munde derjenigen die selber zum Opfer wurden, und in der letzten Zeit ihres Lebens versucht haben, ihre Gefühle und Gedanken aufzuschreiben.
Heute möchte ich ein Fragment vorlesen aus den Tagebücher von Etty Hillesum, eine jüdische holländische Frau, die in 1943 in Auschwitz ermordet wurde, im Alter von 27 Jahr. Ihre faszinierende Tagebücher und Briefe sind später gefunden und publiziert, auch auf Deutsch, mit dem Titel “Das denkende Herz”. Sie schreibt:
“ ‘ Nach dem Krieg wird außer einer Flut des Humanismus auch ein Flut des Hasses über die Welt gehen’. Und dann wußte ich es wieder: Ich werde gegen diesen Haß zu Felde ziehen.
Man muss mit sich selbst leben, als lebte man mit einem ganzen Volk von Menschen. Und an sich selbst lernt man dann allen guten und bösen Eigenschaften der Menschen kennen. Und man muß zuerst sich selbst die eigenen schlechten Eigenschaften vergeben, wenn man den anderen vergeben will. Das ist wohl das Schwierigste, was ein Mensch lernen muß; ich stelle es oft bei anderen fest (früher auch bei mir selbst, jetzt nicht mehr): sich selbst seine Fehler und Irrtümer verzeihen. Wozu als allererstes gehört: sich eingestehen und großmütig damit abfinden zu können, das man Fehler macht und Irrtümer begeht.”
Sie weiss genau worüber sie spricht, und in welche Umstände sie schreibt. Und es ist, als ob sie schon während des Krieges, wo der Haß so allmächtig war, von allen Seiten, wußte wie wichtig es ist, um diesen fast selbstverständlichen Haß zu begrenzen, und zu überwinden. Dann müssen wir, wie so oft, bei uns selber anfangen, und erkennen, dass alle schlechte Eigenschaften auch in uns selber sitzen. Etty Hillesum verbindet das mit der Fähigkeit von Menschen um sich selber zu vergeben. Damit fängt es an, die Selbstvergebung ist kein Endziel, sondern der Anfang einer Bewegung, die bei uns selbst anfängt und auf anderen Menschen übergeht, um den Haß zu verringern, und wo möglich aus der Welt zu schaffen. Damit das Leben weitergehen kann, in Frieden zwischen Menschen. So wichtig kann es sein, um sich selbst zu kennen, bis in die düstere Ecken unserer Gedanken, unseres Lebens, und wirklich zu wissen was man tut.
Das war vielleicht eine der großen Fehler auch von Kain: er wusste selber kaum was er getan hat, in seinem Zorn, in seiner sich selbst entfremdet sein, und verneinte einfach daß er damit etwas falsches getan hat. Wenn Gott ihn fragt: “Wo ist dein Bruder Abel?”, dann antwortet er: “Ich weiss es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?”. Die Rabbiner haben diesen Satz schon lange her anders übersetzt. “Ich weiß nicht dass ich der Hüter meines Bruders bin”, schreiben sie. Er, Kain, die Menschheit also, sie mußten noch lernen was es heißt um “Brüder” zu sein. Es ist bemerkt worden, daß das Wort “Bruder” das am meisten vorkommenden Wort dieser ganzen Geschichte ist. Die ganze Geschichte ist ein Aufruf um zu wissen daß die Menschheit zu Brüderlichkeit aufgerufen wird, wir müssen das immer wieder hören. Auch angesichts der schrecklichen Geschehnisse die stattfinden in dieser Welt.
Das Wort “Vergebung” fällt nicht in unsere Geschichte. Aber wenn Kain sich bewusst geworden ist dessen was er getan hat, sein Schuld kennt, fürchtet er, das er vogelfrei sein wird in der ganzen Welt, von allen gehasst, und vielleicht getötet. Aber davor wird er von Gott beschützt, mit einem Zeichen, damit er nicht erschlagen wird.
Damit das Leben weiter geht.
Damit die Brüderlichkeit weiter geht, die Menschen in Frieden mit einander leben können, und wissen was lebt, in sich selber und in anderen.
Damit wir einander vergeben können.
Amen.
Gebet:
Lieber Gott,
Wir bitten dich, dass du bei uns bleibst,
wenn wir hinuntersteigen auf den gefährlichen Pfade
unseres tiefstes Inneres,
wenn wir nicht wissen wollen was wir denken,
wenn wir nicht denken was wir fühlen,
wenn das Leben von uns allen bedroht wird,
wichtige Verhältnisse von Menschen beschädigt,
das Vertrauen unterminiert,
unsere gemeinsame Zukunft unsicher;
bleibe dann bei uns, mit deiner Klarheit,
behüte uns auf unsere Wegen, gib uns Aussicht
auf Erbarmen, auf Gnade,
damit die Welt bewohnbar bleibt.
Wir bitten dich, dass du bei uns bleibst,
wenn wir versuchen andere Menschen zu verstehen,
auch wenn sie anders sind als wir;
gib dass wir die Fremdheit von anderen auch lieben können,
als eine Bereicherung erfahren über alle Vertrautheit hinaus,
die uns kostbar wird; als ein Zeichen verstanden werden kann
deiner unerschöpflichen Schöpfung,
was du uns alles im Leben zeigst.
Wir bitten dich, dass du bei uns bleibst,
wenn wir versuchen den friedvollen Weg mit anderen zu gehen,
wo es Verständnis gib und Einsicht,
auch wo wir verschiedene Menschen sind;
wo es den Willen gibt um gemeinsam zu erfahren
was wir mit einander teilen können,
was wir einander geben können,
von deiner Reichtum, von was uns ist gegeben;
gib dass wir ohne Sorgen sind, über das eigene Leben,
mit offenen Händen empfangen können
alles was du uns gibt.
Amen.